Auf Mumbais Straßen stehen die Autos dicht an dicht, soweit das Auge reicht. Auch das Dauerhupen ändert daran nichts. Was man in Stuttgart als „Stau“ bezeichnet, würde hier fast schon als fließender Verkehr gelten. Überhaupt: Vieles von dem, was in Stuttgart als Problem erscheint, relativiert sich nach einem Besuch in der indischen Megacity. Aktuell leben dort knapp 21 Millionen Menschen, 2040 werden es voraussichtlich 40 Millionen sein.
Mumbai ist das Wirtschaftszentrum Indiens und eine Stadt der Gegensätze. Die Stuttgarter Delegation unter Leitung von Finanzbürgermeister Thomas Fuhrmann ist im Februar 2024 anlässlich des 20. Festivals „Stuttgart meets Mumbai“ angereist. Dazu lädt der Stuttgarter Unternehmer Andreas Lapp – er ist auch Honorarkonsul der Republik Indien für Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz – alljährlich Engagierte aus Wirtschaft, Politik und Gesellschaft ein, um die deutsch-indischen Beziehungen zu fördern. Abends wird Wein aus Stuttgart ausgeschenkt, auch Winzer wie Hans-Peter Wöhrwag aus Untertürkheim sind vor Ort.
Bürgermeister Thomas FuhrmannVerglichen mit Mumbai ist Stuttgart eine kleine Stadt. Wir haben unterschiedliche Kulturen und Traditionen, und trotzdem sind wir einander nahe.
„Mumbai und Stuttgart sind viele tausend Kilometer voneinander entfernt“, sagt Bürgermeister Fuhrmann. „Verglichen mit Mumbai ist Stuttgart eine kleine Stadt. Wir haben unterschiedliche Kulturen und Traditionen, und trotzdem sind wir einander nahe. Eine Freundschaft ist entstanden. Wir besuchen uns und wir lernen voneinander.“
Der Mindestlohn in Deutschland liegt bei 12,41 in der Stunde. Die meisten Menschen, die in den Slums von Mumbai arbeiten, verdienen an einem langen Tag gerade mal die Hälfte dieses Stundenlohns: 600 Rupien, das sind umgerechnet 6,75 Euro. Viele Arbeiter sind Migranten aus dem armen Norden. Sie malochen zwölf Stunden am Tag, sechs Tage die Woche und schlafen auf dem Boden der Fabrik. Wer farblich sortiertes Plastik in den Häcksler füllt, muss gut auf seine Hände achten, verdient aber etwas mehr als die Arbeiter an den Nähmaschinen, die billige Kleidung für die Straßenmärkte und manchmal auch für große Designerlabels nähen. Am meisten verdienen diejenigen, die Aluminium recyceln. Sie atmen beim Einschmelzen tagein, tagaus giftige Dämpfe ein. Wer diese Arbeit macht, der weiß, dass er für seinen höheren Lohn bezahlt – mit Lebenszeit.
Die Megacity als Traumstadt
„Mumbai is a dream city. People come for jobs“, sagt der 30jährige Chetan, der die Stuttgarter Delegation durch Indiens größten Slum Dharavi führt. Dort ist er selber aufgewachsen und hat sein gutes Englisch durch amerikanische Serien gelernt. Heute zählt er zu den Guides der Firma Reality Tours, die den Besuchern zeigen, dass ein Slum mehr als ein Elendsviertel ist. Nicht nur dem Stadtrat Jörg Sailer (Freie Wähler) gehen die Eindrücke aus Dharavi nicht aus dem Kopf. „Mal abgesehen davon, wie die Menschen dort arbeiten, wie sie wohnen und wie es aussieht, es ist eben doch ein eigenständiges Geschäftsviertel, in dem es viele Handwerksbetriebe gibt.“
Die Delegation besucht ein Ausbildungszentrum der indischen Tata Group für unterprivilegierte junge Menschen. In den Slums leben sie mit ihren Familien im Standardmodul „One Room Kitchen“, das sind neun Quadratmeter ohne Bad. Bei Tata lernen sie mit grünen Starbucks-Schürzen die Arbeit als Barista, sie lernen in einem voll eingerichteten Hotelzimmer, wie man Betten macht und Böden pflegt, sie werden auf die Arbeit in Callcentern vorbereitet. Für Tata zählt das zur Corporate Social Responsibility, ist aber auch ein Steuersparmodell – und selbstverständlich zählen die potentiellen Arbeitsstellen bis hin zu Starbucks India zum Portfolio der Tata Group. Beeindruckt sind die Gäste aus Stuttgart von der hohen Arbeitsmoral, der Leistungsbereitschaft und den Zielen, die die jungen Menschen nennen, etwa in der Callcenter-Klasse, wo sie Gesprächsführung und den Umgang mit Kunden lernen. Reshma (21) träumt von einem Job als Government Officer, Gopal (19) möchte Head of Marketing in einem Service Center werden.
Rosettee Silveira, die in Mumbai als Managerin für ein Münchner Chemieunternehmen arbeitet, sagt: „In Indien strengen wir uns vom Morgen bis zum Abend an. Wir stehen um 5 Uhr auf, wir kochen unsere Mahlzeiten, wir rennen zum Zug. Wir sind ständig auf einem hohen Energie-Level, wir stehen ständig unter Druck. Wenn ich einen Job auf LinkedIn poste, melden sich 500 Leute. Wenn die Regierung eine Stelle ausschreibt, erhält sie 10.000 Bewerbungen. Wir kämpfen um Ressourcen, wir kämpfen um Geld, um Zeit, um Möglichkeiten, wir kämpfen in Indien um alles.“
Deutschland und Indien haben vor allem im Bereich der Wirtschaft und der Bildung ein wachsendes Interesse aneinander. Die Messe Stuttgart hat eine Tochtermesse in Indien gegründet, vor allem, um darüber potentielle Aussteller und Kunden für den Messestandort Stuttgart anzuwerben. So ist die indische Bildungsmesse DIDAC ein Ableger der Stuttgarter didacta.
Rund 200 deutsche Firmen in Indien vertreten
„Deutschland ist Indiens wichtigster Handelspartner in Europa“, sagt Achim Fabig, Generalkonsul der Bundesrepublik in Mumbai. „Mittlerweile leben über 240.000 indische Staatsangehörige in der Bundesrepublik, in keinem anderen Land der EU gibt es so viele indische Studierende wie in Deutschland.“ 2023 seien die Minister Habeck, Pistorius und Lauterbach in Mumbai gewesen, auch Kulturstaatsministerin Roth. Für den Herbst 2024 erwarte er die nächste Runde der deutschen Delegationsgespräche.
Stefan Halusa, Generaldirektor der Deutsch-Indischen Handelskammer, berichtet den Gästen aus Stuttgart, dass mittlerweile rund 200 deutsche Firmen eine Niederlassung in Indien haben. „Bosch, Siemens und Krupp sind schon seit 120 Jahren hier aktiv. Jetzt interessieren sich auch kleinere Firmen, denn Indien ist ein großer Markt. 2023 hat es Großbritannien als fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt abgelöst und wird auch Deutschland und Japan noch überholen.“ In Mumbai gebe es über 60 Milliardäre, aber der Großteil der Bevölkerung sei abgehängt.
Diese Verteilungsungerechtigkeit beschäftigt die SPD-Fraktionsvorsitzende Jasmin Meergans stark. „Unfassbare Armut und unglaublicher Reichtum liegen im Stadtbild nicht selten unmittelbar nebeneinander – hier ein Slum und direkt daneben eine Luxusvilla. Und trotzdem scheint es ziemlich friedlich zuzugehen.“ „Gruselig“ findet der FDP-Fraktionsvorsitzende Matthias Oechsner die Kluft zwischen Arm und Reich. „Ob das noch lange gut geht? Das Kastenwesen scheint die Verhältnisse noch einige Zeit stabil zu halten.“
Klinikum hat Interesse an indischen Arbeitskräften
„Die Marktmöglichkeiten in Indien sind immens“, staunt der AfD-Fraktionsvorsitzende Christian Köhler. „Es gibt eine beeindruckend andere Bevölkerungsstruktur, einen Überhang an Arbeitskräften.“ Der städtische Wirtschaftsförderer Bernhard Grieb nimmt an einem Panel von „Stuttgart meets Mumbai“ zur Arbeitsmobilität teil und animiert junge Gründer im Somaiya College, einer Partneruniversität der Dualen Hochschule Baden-Württemberg, die Wirtschaftsregion Stuttgart in den Blick zu nehmen.
Für Arbeitskräfte aus Indien interessiert sich auch das Klinikum Stuttgart. Die stellvertretende Pflegedirektorin Cathleen Koch baut in Mumbai Kontakte zum King Edward Memorial Krankenhaus und zur Pflegeschule des Ordens Helpers of Mary auf. Bei den Schwestern, die in ihrem „Home for girls“ 140 Waisenkinder aus den Slums aufgefangen haben, erleben die Mitglieder der Delegation die emotional berührendsten Momente ihrer Reise: Die Mädchen begrüßen sie mit Liedern, hängen ihnen Blumenketten um und malen ihnen rote Segenspunkte auf die Stirn. Die Schickhardt-Gemeinschaftsschule hat einen Scheck über 232,27 Euro mitgegeben, gedacht für „eine soziale Einrichtung für Kinder in Stuttgarts Partnerstadt Mumbai“. Oberschwester Pushpy Alappadan nimmt ihn strahlend in Empfang – vielleicht ist das der Auftakt einer neuen Partnerschaft.
Aktuell kein gewähltes Stadtparlament
Noch ein kurzer Blick ins Rathaus: Seit zwei Jahren gibt es in Mumbai kein gewähltes Stadtparlament. Deshalb wird die Delegation durch den stellvertretenden Verwaltungsleiter Dr. Sudhakar Shinde und die stellvertretende Verwaltungsleiterin Ashwini Bhide empfangen. Beide haben den Rang eines Bürgermeisters und waren im September 2023 zu Gast in Stuttgart.
Der Austausch zwischen den zwei Partnerstädten ist sehr lebendig. Das St. Xavier’s College begrüßt in diesem Februar Studierende der Universität Stuttgart. Die Bombay International School macht einen Austausch mit dem Wirtschaftsgymnasium West, erst im Januar war eine Gruppe aus Stuttgart in Mumbai. Für März steht der Gegenbesuch in Stuttgart an. „Man merkt, dass die Städtepartnerschaft zwischen Stuttgart und Mumbai eine Partnerschaft aus dem Herzen ist, die sich über die Jahrzehnte sehr gefestigt hat“, bilanziert CDU-Stadtrat Klaus Nopper. „Die freundschaftlichen Beziehungen sind wirklich beeindruckend“, bestärkt die stellvertretende CDU-Fraktionsvorsitzende Beate Bulle-Schmied. „Die Inder wollen diese Beziehungen und die globale Zusammenarbeit.“
Im Programm der Delegationsreise habe die Kultur gefehlt, merkt Guntrun Müller-Ensslin (Die FrAKTION) am Ende der dicht gedrängten drei Tage an: „Kultur ist etwas sehr Wichtiges, was Menschen verbindet.“ Und Silvia Fischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) schaut in die Zukunft: „Es ist wichtig, dass man die Kontakte auf allen Ebenen der Gesellschaft weiter pflegt, um die Partnerschaft nachhaltig weiterzuentwickeln, so dass auch beide Seiten profitieren.“
Die stellvertretende Leiterin der Abteilung Außenbeziehungen Melis Schmid, die die Reise mit vorbereitet hat und selbst begleitet, ist sich sicher: „Reisen schärft den Blick. Der direkte Kontakt mit den unglaublich gastfreundlichen und hilfsbereiten Menschen vor Ort erweitert unseren Horizont und schärft den positiven Blick auf die eigene Stadt.“
A propos Stau: Der Verkehr muss in Mumbai unter die Erde, deshalb baut die Stadt aktuell eine Metro, deren erster Streckenabschnitt noch in diesem Jahr eröffnet werden soll. Ein ehrgeiziges Tunnel-Projekt: Auch das verbindet die ungleichen Partnerstädte miteinander.