Stuttgarts Oberbürgermeister Dr. Frank Nopper erklärte: „Ich verurteile die Verstöße gegen die Corona-Auflagen durch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer und die Versammlungsleiter sowie die Angriffe auf Journalisten aufs Schärfste. Es widerspricht zutiefst meinem Gerechtigkeitsempfinden, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der ,Querdenken‘-Demonstration den grundrechtlichen Schutzmantel der Versammlungsfreiheit missbraucht haben, um sich den Corona-Beschränkungen zu entziehen. Gleichzeitig durften Familien und Freundeskreise an Ostern nur unter ganz strengen Corona-Beschränkungen zusammenkommen. Ich habe deswegen großes Verständnis für die massive Verärgerung in der Bevölkerung über die Corona-Verstöße, die sich während der Corona-Demonstrationen ereignet haben.“
Wie viele Demonstrationen finden im Jahr in Stuttgart statt?
In Stuttgart finden etwa 2.000 Versammlungen im Jahr statt, die jeweils im Einzelfall geprüft werden. Die Prüfung erfolgt durch erfahrene Verwaltungsjuristen der Versammlungsbehörde.
Unter welchen Voraussetzungen können ein Demonstrationsverbot oder beschränkende Auflagen ausgesprochen werden?
Die Versammlungsfreiheit ist ein Grundrecht. Sie gehört zum fundamentalen Kernbestand der Demokratie und kann nur in begründeten Ausnahmefällen eingeschränkt werden. Versammlungen sind grundsätzlich genehmigungsfrei zulässig, müssen jedoch angemeldet werden. Der Anmelder ist in der Wahl von Ort, Zeit und Art seiner Versammlung grundsätzlich frei. Nur wenn gewichtige Gründe vorliegen, kann davon abgewichen werden.
Das Verbot einer Versammlung ist die ultima ratio und von sehr hohen Anforderungen abhängig. Ein Demonstrationsverbot darf nur ausgesprochen werden, wenn die öffentliche Sicherheit und Ordnung unmittelbar gefährdet ist.
Außerdem kann die Versammlung verboten werden, wenn der Schutz vor Infektionen nicht gewährleistet werden kann. Solche Gefährdungen können unter anderem dann festgestellt werden, wenn konkrete Anhaltspunkte für Auflagenverstöße vorliegen und der Anmelder nicht die Gewähr dafür bietet, solche Verstöße zuverlässig einzudämmen und zu verhindern.
Dafür muss die Versammlungsbehörde für jede Versammlung individuell eine Gefahrenprognose mit konkreten, belastbaren Anhaltspunkten erstellen – bloße Vermutungen und Verdächtigungen reichen dabei nicht aus, ebenso wenig dürfen Erfahrungen aus anderen Versammlungen in derselben Stadt oder auch Erfahrungen aus anderen Städten einfach übertragen werden.
Maßgeblich gestützt wird diese Prognose auch auf die Erkenntnisse der Polizei, deren Bewertung bei der Prüfung jeder Versammlung im Vorfeld abgefragt wird.
Nur wenn eine solche Einzelfallprüfung hinreichend konkrete, tatsächliche und nachvollziehbare Anhaltspunkte für eine Gefährdungslage ergibt, kann im Einzelfall ein Verbot ausgesprochen werden. Es bestehen also sehr hohe Hürden, um entweder versammlungsrechtlich oder infektiologisch ein Verbot zu begründen. Ein Verbot ist dabei immer das letzte Mittel. Vorher ist stets zu prüfen, ob nicht mildere Mittel, speziell über Auflagen, gewählt werden können, um die Sicherheit und Ordnung – sowie in Zeiten der Pandemie den Schutz vor Infektionen – sicherzustellen.
Kann der Anmelder gegen ein Verbot oder gegen Auflagen gerichtlich vorgehen?
Ja, die Entscheidungen der Versammlungsbehörde können vor den Verwaltungsgerichten angegriffen werden. In der Regel handelt es sich bei dabei um Eilverfahren, eine Entscheidung liegt meist erst kurz vor Beginn der Versammlung vor.
Warum wurde die Demonstration am Karsamstag 2021 nicht verboten?
Die Stadt Stuttgart hat in der Vergangenheit immer wieder Versammlungen gegen Corona-Maßnahmen verboten. Dies war dann möglich, wenn der Anmelder der Versammlung der Stadt als unzuverlässig bekannt war und zu befürchten war, dass er nicht bereit oder in der Lage sein würde, die Auflagen der Stadt einzuhalten oder durchzusetzen.
Das war bei der angemeldeten Versammlung am Karsamstag aber anders. Der Veranstalter, der die Versammlung auf dem Wasen angemeldet hatte, war innerhalb des letzten Jahres insgesamt elf Mal als Anmelder in Stuttgart aufgetreten. Bei diesen früheren Corona-Versammlungen in Stuttgart hatte er die Auflagen, wie beispielsweise das Abstandgebot, ganz überwiegend eingehalten und dafür gesorgt, dass sich die Teilnehmer an die Corona-Regeln hielten. Man konnte ihm also nicht unterstellen, dass er in diesem Fall, anders als bei den elf vorangegangenen Fällen, nicht dazu in der Lage sein würde. Auch von den Anmeldern der weiteren Versammlungen am Karsamstag lagen keine Erkenntnisse vor, die ein Verbot begründet hätten.
Auch waren in der Vergangenheit Corona-Versammlungen anderer Veranstalter in Stuttgart überwiegend ohne Verstöße gegen die Auflagen abgelaufen. Daher war nicht damit zu rechnen, dass es in diesem Fall anders sein würde. Es gab somit keine rechtliche Grundlage für ein Verbot der Versammlungen.
Hat die Stadt in der Vergangenheit bereits Corona-Demonstrationen verboten?
Versammlungen gegen die Corona-Maßnahmen wurden von der Stadt bereits mehrfach verboten oder beschränkt. So wurden beispielsweise zwei Versammlungen eines Anmelders aus dem Bereich der sogenannten „Querdenken“-Bewegung, die für den 6. Januar und den 13. Januar 2021 in der Innenstadt angemeldet worden waren, untersagt, weil sich der Anmelder bei vorhergehenden Versammlungen als unzuverlässig erwiesen hatte.
Bei einer Versammlung im Oberen Schlossgarten am 13. März 2021 wurde ein Aufzug verboten, nachdem die Hygieneauflagen bei der Auftaktkundgebung teilweise nicht eingehalten und durchgesetzt wurden. Daraufhin bildeten sich allerdings mehrere Spontanaufzüge mit hunderten von Teilnehmern, die kaum kontrollierbar durch die Innenstadt zogen.
Auch Autokorsos aus der „Querdenker“-Szene wurden im Februar 2021 wegen ihrer Auswirkungen auf den gesamten Innenstadtverkehr von der Stadt verboten.
Wie gehen andere Städte mit Corona-Demonstrationen um?
Auch andere Städte sind an Recht und Gesetz gebunden und treffen für Corona-Versammlungen Einzelfallentscheidungen. „Querdenken“-Initiativen existieren bundesweit in zahllosen Städten. Die Durchführung von „Querdenken“-Versammlungen war bisher die Regel und Verbote die Ausnahme.
Größere Versammlungen fanden beispielweise am 1. August 2020 mit 30.000 Teilnehmern und am 29. August 2020 mit 38.000 Teilnehmern (nach Verbot gerichtlich zugelassen) in Berlin statt. Weitere zugelassene Versammlungen in jüngster Vergangenheit waren unter anderem am 13. März 2021 in Düsseldorf mit 2.000 Teilnehmern, am 27. März 2021 in Ulm mit 1.000 Teilnehmern und in Sinsheim mit 800 Teilnehmern. In München und Nürnberg finden teilweise wöchentlich kleinere „Querdenken“-Versammlungen statt. Stuttgart ist somit keine Ausnahme.
Städte, die Corona-Demonstrationen in der Vergangenheit verboten haben, haben dies in der Regel damit begründet, dass der Anmelder nicht zuverlässig war oder sich nicht an die Auflagen halten konnte oder wollte. Immer wieder werden Verbote von Gerichten aber auch aufgehoben oder abgeschwächt. Dies ist immer eine Frage des konkreten Einzelfalls.
Warum wurde die Demonstration am Karsamstag nicht aufgelöst?
Die Versammlungsbehörde hat sich in Abstimmung mit der Polizei bewusst dafür entschieden nicht aufzulösen, da dies unverhältnismäßig gewesen wäre. Eine Auflösung hätte erhebliche Risiken in sich getragen. Wenn eine Versammlung aufgelöst wird, müssen sich die Teilnehmer entfernen. Am Karsamstag war bei der Versammlung aber damit zu rechnen, dass sich die Teilnehmer nicht freiwillig entfernen, sondern vielmehr mit gesteigerter Aggressivität reagieren würden. Die Polizei hätte dann die Entfernungspflicht gar nicht oder gegebenenfalls nur mit massiven Zwangsmitteln durchsetzen können.
Eine Folge des polizeilichen Eingreifens wäre höchstwahrscheinlich gewesen, dass es zu Gedränge und gewalttätigen Auseinandersetzungen – und damit zu deutlich erhöhten Infektionsgefahren – gekommen wäre. Auch wäre die Frage gewesen, wohin eine so große Zahl von Menschen, Schätzungen gehen von 10.000 bis 15.000 Teilnehmern aus, hätte gedrängt werden können. Zudem lag die Befürchtung nahe, dass sich die Teilnehmer nach einer Auflösung in größerer Zahl wieder in die Innenstadt aufmachen und dort unter Gefährdung anderer Passanten unkontrolliert bewegen würden.
Welche Konsequenzen haben die Verstöße für die Teilnehmer und die Versammlungsleiter?
Die Nichteinhaltung von Corona-Beschränkungen durch Teilnehmerinnen und Teilnehmer ist eine Ordnungswidrigkeit. Verstöße werden mit einer Geldbuße bis 500 Euro belegt. Die vorsätzliche Nichteinhaltung von Versammlungsauflagen durch die Versammlungsleiter ist sogar eine Straftat nach § 25 Versammlungsgesetz. Dies kann zu einer Freiheitsstrafe von bis zu sechs Monaten oder zu einer Geldstrafe von bis zu 180 Tagessätzen führen.
Wird die Stadt solche Demonstrationen in Zukunft verbieten?
Pauschale Versammlungsverbote sind nicht zulässig. Die Stadt wird daher auch in Zukunft angemeldete Versammlungen im Einzelfall prüfen und dabei die konkreten Umstände berücksichtigen.
Es ist davon auszugehen, dass Versammlungen von bereits auffällig gewordenen Anmeldern künftig verboten werden, da diese sich im versammlungsrechtlichen Sinne als unzuverlässig erwiesen haben. Am Karsamstag wurde erstmals in Stuttgart bei einer Corona-Versammlung derart massiv gegen Corona-Auflagen verstoßen.
Ferner muss aufgrund der Ereignisse vom Karsamstag davon ausgegangen werden, dass die Teilnehmer an vergleichbaren Corona-Demonstrationen nicht bereit sind, sich an die Auflagen zu halten. Wenn Demonstranten darüber hinaus den Verzicht auf Masken und Abstände von vorneherein zum Programm machen oder gar dazu aufrufen, wird eine Kundgebung verboten.
Wie bewertet die Stadt die Verstöße gegen die Corona-Auflagen?
Stuttgart liegt aktuell (Stand 9. April 2021) bei einer Inzidenz von ca. 100 pro 100.000 Einwohner, wie auch die Landkreise in der Region Stuttgart.
Die Eindämmung des Infektionsgeschehens erfordert daher nach wie vor eine gemeinsame Kraftanstrengung aller Bürgerinnen und Bürger. Daher haben Bund, Länder und Kommunen alle Bürgerinnen und Bürger dringend gebeten, auch in den nächsten Wochen alle Kontakte auf das absolut notwendige Minimum zu beschränken. Mit den geltenden Maßnahmenpaketen werden die Ziele verfolgt
- des Schutzes der Gesundheit und des Lebens der Bevölkerung,
- einer zielgerichteten und wirksamen Reduzierung von Infektionsgefahren und der Gewährleistung der Nachverfolgbarkeit von Infektionsketten,
- der Aufrechterhaltung der medizinischen Versorgungskapazitäten im Land.
Gerade das Abstandsgebot und die Maskenpflicht sind im Blick auf die Gefahren der Pandemie gut umsetzbare und hochwirksame Maßnahmen die es dringend einzuhalten gilt.
Die vorsätzliche Nichteinhaltung des Abstandsgebots und der Maskenpflicht bei den „Querdenken“-Demonstrationen ist deswegen als verantwortungs- und rücksichtslos zu bezeichnen.