Die Erstellung des Gutachtens hat Michael Kniesel aus Bonn übernommen, ein unabhängiger und anerkannter Experte auf dem Gebiet des Versammlungsrechts, Verfasser eines Standardkommentars zum Versammlungsrecht, Staatsrat a.D. sowie Rechtsanwalt. Kniesel hat der Stadt am Sonntag, 11. April 2021, eine Kurzfassung seines Gutachtens vorgelegt.
Darin kommt Kniesel zu dem Ergebnis, dass ein Verbot der „Querdenken“‐Versammlungen vom Karsamstag rechtswidrig gewesen wäre und die Entscheidung der Stadt, kein Verbot auszusprechen, richtig war. Auch die Entscheidung, die Versammlung auf dem Cannstatter Wasen nicht aufzulösen, sei richtig gewesen. Für die Zukunft weist Kniesel darauf hin, dass jede Versammlungsanmeldung als Einzelfall betrachtet werden müsse und folglich kein pauschales Verbot aller Versammlungen, die sich gegen Corona‐Maßnahmen richten, ausgesprochen werden könne.
Verbot ist letztes Mittel, wenn andere Maßnahmen nicht greifen
Kniesel führt aus: „Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts setzt jedes Verbot als ultima ratio voraus, dass das mildere Mittel der Auflagenerteilung die Gefahr für die öffentliche Sicherheit i.S. von § 15 Abs. 1 BVersG nicht abwehren kann.“ Ein Verbot sei die eingriffsintensivste Maßnahme und könne nur zum Schutz elementarer Rechtsgüter erfolgen, wozu der Schutz der Gesundheit als Schutz vor der Ansteckungsgefahr zählt. Allerdings betont der Gutachter: „Dabei ist die Auflagenerteilung die Regel und das Verbot die Ausnahme, weil regelmäßig mit Hilfe von Auflagen die Gefahr für die öffentliche Sicherheit abgewehrt werden kann.“ Kniesels Fazit lautet folglich: „Bei der von der Versammlungsbehörde geforderten Abwägung zwischen dem Schutz der Demonstrationsfreiheit und dem Schutz der Gesundheit, kann ein Vollverbot aus infektionsschutzrechtlichen Gründen nur die absolute Ausnahme in Extremsituationen sein. Eine solche liegt nach dem derzeitigen Infektionsgeschehen aber nicht vor, weil als mildere Eingriffsmittel Auflagen zur Einhaltung der Corona‐Beschränkungen ausreichen, um ein Infektionsrisiko auf ein vertretbares Maß zu reduzieren.“
Wie die Stadt mitteilt, wurden den Veranstaltern Auflagen zur Einhaltung der Corona-Regeln gemacht. Die Veranstalter hatten im sogenannten Kooperationsgespräch gegenüber der Stadt zugesagt, diese zu befolgen.
Erteilte Auflagen waren Grundlage für Anmeldebestätigung
Als verbotshindernde Auflagen kommen laut Kniesel die Einhaltung eines bestimmten Mindestabstands, das Tragen von Mund-Nase-Bedeckungen, die Beschränkung der Teilnehmerzahl, die Durchführung einer ortsfesten Kundgebung statt eines Aufzuges und die Verlegung an einen aus infektionsschutzrechtlichen Gründen besser geeigneten Alternativstandort in Betracht. „Eben diese genannten Auflagen hat die Versammlungsbehörde Stuttgart im Rahmen ihrer Gefahrenprognose für die Versammlungen am 4.3.2021 einbezogen und zur Grundlage ihrer Anmeldebestätigung mit beschränkenden Auflagen vom 1.4.2021 gemacht“, so Kniesel.
Dabei habe die Versammlungsbehörde die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Zulässigkeit der Querdenker-Demonstrationen am 15. und 18.4.2020 in Stuttgart und die obergerichtlichen Entscheidungen des VGH Mannheim, VGH München, OVG Bautzen, OVG Bremen und OVG Münster zu vergleichbaren Demonstrationen dergestalt berücksichtigt, „dass sie insbesondere keinen Aufzug zugelassen hat (der Anmelder hatte insoweit seine Anmeldung korrigiert und auf einen Aufzug verzichtet; ansonsten hätte die Versammlungsbehörde den Aufzug verboten)“. Zudem habe sie mit dem Cannstatter Wasen ein Demonstrationsgelände vorgegeben, „das auch bei Überschreiten der von der Polizei prognostizierten Teilnehmerzahl im unteren fünfstelligen Bereich über die erforderliche Fläche verfügte, um den detaillierten Auflagen zur Flächenkonzeption (gekennzeichnete Quadrate, Wellenbrecher etc.) auch bei nicht vorhergesehenen Lageentwicklungen gerecht werden zu können“.
Kniesel stellt sodann fest: „Da vom Veranstalter bei den elf vorausgegangenen Corona-Demonstrationen in der Vergangenheit in Stuttgart die erteilten Auflagen überwiegend eingehalten wurden, war er als zuverlässig im Sinne des Versammlungsrechts anzusehen. Auch waren die im Bescheid vom 1.4.2021 erteilten Auflagen geeignet, die Gefahr für die öffentliche Sicherheit bei der Veranstaltung der Demonstration abzuwehren, sodass ein Demonstrationsverbot als Vollverbot rechtswidrig gewesen wäre.“
Auch hinsichtlich der Veranstalter der weiteren Corona-Versammlungen am Karsamstag hätten keine Erkenntnisse – weder der Stadt noch der Polizei – vorgelegen, die gegen ihre Zuverlässigkeit und ihre Bereitschaft zur Einhaltung der erteilten Auflagen gesprochen hätten.
Zur Frage, ob die laufende Versammlung auf dem Cannstatter Wasen am Nachmittag des Karsamstags hätte aufgelöst werden müssen, sagt Kniesel, eine Auflösung sei aufgrund des offensichtlichen Verstoßes gegen die Auflagen wie die Maskenpflicht rechtlich zwar möglich, angesichts der drohenden Eskalationsgefahr und einer Verschlimmerung der Situation aber unverhältnismäßig gewesen. Die Entscheidung, nicht aufzulösen, sei deshalb richtig gewesen.
Versammlungsverbote möglich – aber weiterhin von den Umständen des Einzelfalls abhängig
Für zukünftige Corona‐Demonstrationen gibt Kniesel folgende Hinweise: „Die Erkenntnisse aus der Nachbearbeitung taugen fraglos als Indizien der Vergangenheit für die Gefahrenprognose künftiger Demonstrationen mit vergleichbarem Thema und gleicher oder ähnlicher Teilnehmerstruktur.“ Nichtsdestotrotz müsse die Versammlungsbehörde bei künftigen Demonstrationen eine einzelfallbezogene Bewertung auf der Grundlage der Erkenntnisse im Vorfeld der bevorstehenden Demo vornehmen und könne nicht allein unter Hinweis auf die gemachten Erfahrungen ein Verbot aussprechen.
Weiter heißt es: „Gestützt auf Erkenntnisse von Verfassungsschutz und Polizei zur Teilnehmerstruktur und zur Person des Veranstalters, insbesondere seines Einflusses auf die Gewährleistung der Einhaltung der erteilten Auflagen wird es Aufgabe von Versammlungsbehörde und Polizei sein, unter Beibehaltung des bisher gezeigten Augenmaßes bei der Abwägung der beteiligten Rechtsgüter versammlungsrechtliche Maßnahmen zu treffen, bei denen die Erfahrungen des 3.4.2021 dazu führen können, dass bei berechtigten Zweifeln an der Durchsetzungsbereitschaft des Veranstalters und seines Anhangs bezüglich der erteilten Auflagen Versammlungsverbote zulässig ergehen können.“
Das vollständige Gutachten folgt in den kommenden Tagen. In der Sondersitzung des Gemeinderats am Donnerstag, 15. April 2021, wird Michael Kniesel seine Ergebnisse vorstellen.